Auswahl einer B2B E-Commerce-Plattform

Viele Branchen haben schon früh das Potenzial des Internet für den Vertrieb erkannt. Während in der Tourismusbranche schon in den 1960-Jahren die ersten weltweiten Netzwerke zur Buchung von Flügen eingesetzt wurden – übrigens reines B2B-Geschäft zwischen Reisebüros und Fluggesellschaften –  wurden mit der Entwicklung des World Wide Web und der dazugehörigen Software ab den 1990-Jahren die notwendigen Voraussetzungen für eine deutlich einfacheren Zugang zu internationalen Nutzern und damit auch potenziellen Kunden geschaffen. Die Trends in Online-Werbung und E-Commerce setzen seitdem vor allem Unternehmen in B2C-Branchen, z.B. im Tourismus, Handel, der Telekommunikation. In den letzten Jahren transformieren aber auch viele Unternehmen in klassischen B2B-Branchen wie Maschinenbau, Elektrotechnik oder Chemie ihre Beschaffungs- und Vertriebsprozesse.

Einerseits wird diese Entwicklung durch die Erwartungshaltung der handelnden Personen getrieben, z.B durch Einkäufer, welche die Bequemlichkeit, Effizienz oder Schnelligkeit der Shopping-Erlebnisse im privaten Umfeld auch beruflich nutzen möchten. Andererseits erkennen immer mehr B2B-Unternehmen die Chancen und Nutzen, z.B.

  • durch Digitalisierung effizientere und kostengünstigere Prozesse zu erzielen,
  • durch eine weltweite Präsenz mehr Marktdurchdringung, mehr Leads sowiehöhere Umsätze und Erträge zu erreichen,
  • Up- und Cross-Sell-Potenziale bei Bestandskunnden auszuschöpfen und
  • zudem mehr Daten und Informationen über die Bedürfnisse und Motivationen ihrer Kunden zu erfahren.

Auf diesen Trend setzen in der letzten Zeit sich auch die Anbieter von E-Commerce-Plattformen. Viele Erkenntnisse aus den Online-Shops für Verbraucher, z.B. Funktionen für Suche, Produktpräsentation, Warenkorb und Bestellprozess können für gewerbliche Kunden übernommen werden. Daneben gibt es allerdings auch einige Besonderheiten zu berücksichtigen, denn B2B Prozesse für Werbung, Verkauf, Bezahlung und Lieferung funktionieren oft anders als im klassischen Endverbrauchergeschäft. Dazu einige Beispiele:

  • Mit dem Abschicken der Bestellung unterbreitet ein gewerblicher Kunde dem Verkäufer erst ein Kaufangebot. Der Kaufvertrag selbst kommt erst mit Annahme durch den Verkäufer und Zustellung der Auftragsbestätigung zustande.
  • Es gilt individuell zu klären, ob das Fernabsatzgesetz für Verbraucher (z.B. Rücksendungen) oder die Gestaltung der Preisauszeichnung für den eigenen Online-Shop anzuwenden sind.
  • Oft kann keine Stimulanz des Absatzes durch Rabatte, Werbeaktionen o.ä. erzielt werden. Die Kunden kaufen nur bedarfsgetrieben, wenn wiederum bei Ihren Produkten eine konkrete Nachfrage besteht.
  • Einkäufer wollen ihre Beschaffungsprozesse hinsichtlich Lieferzeit und Kapitalbildung durch Lagerbestand optimieren. Bestellungen sind daher nicht immer sofort zu versenden, sondern erst zu verbindlichen Wunsch-Lieferterminen.
  • Im B2B gibt es oft mehre physische Läger – Konsigantionsläger, verschiedene Standorte usw.. Daher wird ein Konzept benötigt, um welche Lagerbestände im Shop angezeigt und wie diese ggf. umgelagert werden müssen. Bei Chargen-geführten Prozessen nimmt dies noch mehr Komplexität an.
  • Bestellungen und Rechnungen sollen direkt in eigene Systeme der Kunden – ERP oder Procurement-Plattformen – übermittelt werden, z.B. mittels EDI/OCI,
  • Eine Bestellung soll auch bei nicht vorhandenem Lagerbestand möglich sein, dann wird ein Liefertermin disponiert und mit der Auftragsbestätigung übermittelt.
  • Die Bestellungen sollen an mehrere Adressen geleifert werden (Order-Split)
  • Als Bezahlmethoden wird oft sehr individuell auf die Kunden eingegangen, z.B. oftmals ist Bezahlung auf Rechnung ist oft der Standard, Vorkasse wird abhängig von einer schlechter bewerteten Bonität gefordert. Als Zahlungsmethoden sind dann wiederum Sofortüberweisung, Kreditkarten, nationaler Systeme wie iDeal etc. vor Paypal & Co präferiert. Daher muss man sich auch mit Themen rund um Payment Service Provider und Akquiring beschäftigen.
  • Tendenziell höherwertige Warenkörbe sind hinsichtlich des Ausfallrisikos zu bewerten. Weltweit sind weniger valide Bonitätsauskünfte von Anbietern wie Dun&Bradstreet oder Schufa zu erhalten.

Zuerst haben die relevanten Anbieter von E-Commerce-Plattformen die großen Unternehmen in B2B-Branchen adressiert. Nachdem die sogenannten „Blue Chips“, z.B. DAX-Konzerne,  aus Industrie, Handel und Dienstleistungen mit Shop-Systemen versorgt waren, rückte zunehmend auch der Mittelstand in den Fokus. Dort mussten die Software Anbieter jedoch ihre Lizenzmodelle, die oft an der Anzahl Transaktionen oder Höhe der Umsätze ausgerichtet waren, an die wirtschaftlichgen Realitäten des Mittelstands, z.B. geringere Finanzkraft für Investition oder  Zahlungsbereitschaft, angepasst werden. Der Mittelstand rechnet tendenziell eher spitz anhand Kriterien wie Amortisation der Investition oder dem Cashflow der Betriebskosten.

Vor der Bewertung und Auswahl eines Anbieters sind immer zuerst die konkreten Ziele und Anforderungen zu definieren.Dabei sollte E-Commerce in die Unternehmensstrategie eingebettet sein.

  • Oftmals ist die Distributionsstrategie anzupassen. Es gilt u.a. zu klären, in zu welchem Grad eine Abstimmung, Einbeziehung oder Konkurrenz zu bestehenden Distributionspartnern gewünscht ist.
  • Es sollte eine klare Preisstrategie bestehen, welche des Preiskonzept für Online mit abdeckt, z.B. Multichannel oder Omnichannel. Daraus leiten sich u.a. die Bereitstellungen von Preislisten, der Grad der Abschottung bzw. Preistransparenz durch öffentliche Preise oder Preise erst nach einem Login ab.
  • Die Bedrohung von neuen Marktteilnehmern wie Intermediäre (Online-Händler), welche eine bestehende regionale Abschottung aufbrechen, Preise transparent darstellen uvm., ist langfristig zu bewerten.
  • Ein Online-Shop ist i.d.R. weltweit erreichbar. Daher gilt es zu klären, ob der Verkauf und Lieferung auch weltweit erfolgen soll. Bei internationalem Geschäft bestehen zusätzliche Herausforderungen:
    • Steuerrecht, z.B. ist es innerhalb der EU wichtig, bei jedem Kunden eine valide Umsatzsteuer-ID zu prüfen. Ist diese nicht nachzuweisen, besteht das Risiko, dass die Umsatzsteuer in Deutschland nachträglich zu entrichten ist.
    • Exportrecht: unterliegen die Produkte nicht nur im Verkauf, sondern ggf. auch schon Inhalte wie Datenblätter oder Zeichnungen der Ausfuhrgenehmigungspflicht
    • Zollrechtliche Aspekte betreffen Lieferbedingungen (Incoterms), Ausstellung von Zollpapieren oder die, Berechnung von Zöllen
    • Handelsrecht: welche AGBs gelten, Gerichtsstand usw.
    • Eigene Shops („Mandanten“) für spezielle Länder/Regionen, z.B. Unterscheidung nach Währungen, Vertragspartner (Tochtergesellschaften), Portfolio oder Einheiten (Metrisch, imperial) können Vorteile bieten.

Bei den meisten Unternehmen besteht schon eine mehr oder weniger große Systemlandschaft an bestehender Software, sog. Legacy-Systemen:

  • Für Auftragsprozesse, Produktion, Abrechnung und Finanzen bildet i.d.R. ein ERP-System das Rückgrat. In vielen Projekten besteht eine große technische Herausforderung in der Anbindung an den Online-Shop: Schnittstellen sind oft nicht vorhanden oder unterstützen keine aktuellen Formate und Protokolle.
  • Die Definition, welches System für welche Daten führend ist, führt ebenfalls oft zu komplexen Anpassungen. So sollen oft die Auftragsdaten inkl. Preis vom Shop ohne eigene (Nach-)Kalkulation übernommen werden, weshalb bei der Preislistenerstellung für den Shop oder Rabattlogiken im Shop eine höhere Sorgfalt erforderlich ist.

Organisatorisch ist die Verteilung der Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Ressourcen für das erfolgreiche Zusammenspiel von Marketing und Sales zu klären. Oft entstehen völlig neue Disziplinen im Unternehmen, die wiederum neue Kenntnisse und Fähigkeiten erfordern, z.B. für Online-Werbekampagnen, User Experience (UX), Suchmaschinenoptimierung uvm.

Aber vor allem die Tatsache, dass ein Online-Shop im 24/7 Betrieb dem Kunden eine Beststellmöglichkeit bietet und dann i.d.R. auch eine kurzfristige Bestätigung gewünscht wird, stellt hohe Anforderungen an die Prozesse und Organisation. Hier kann ein erhöhter Grad der Automatisierung helfen, den Aufwand und die Zeitspanne für die Auftragsbearbeitung zu reduzieren. Im Idealfall ist frühestens der Kommissionierer im Lager die erste Person, die händisch den Auftrag bearbeitet. Aber auch für Support bei Störungen oder Anwenderfragen sollte man entsprechende Konzepte entwickeln.

Nicht alle Produkte eignen sich für einen Online-Shop. Je nach Geschäftstyp, Integrationsgeschäft, Verbundgeschäft, Systemgeschäft oder Produktgeschäft gibt es unterschiedliche Ansätze. Im Maschinenbau kommt E-Commerce oft im Aftersales für die regelmäßige Beschaffung der Verbrauchsmaterialen oder Ersatzteile zum Einsatz. Schwerpunkt vieler Shops ist das Produktgeschäft mit Commodities, wo das Angebot für E-Commerce ein Unterscheidungskriterium darstellen kann und den Weg zum konkreten Produkt einfach und schnell ermöglicht:

  • Auswahl aus den Kategorien oder Suche im bestehenden Online-Katalog bietet den direkten Einstieg
  • Guided Selling kann als Trichter durch das bestehende Portfolio zum passenden Angebot führen
  • Customization kann durch das Angebot von Konfiguratoren erfolgen

In vielen Projekten birgt die Bereitstellung der Produktinhalte den kritischen Pfad für die Implementierung des Online-Shops. Oft sind die Produktdaten und -dokumente dezentral und wenig strukturiert im Unternehmen vorhanden.

  • Bilder in ausreichender Auflösung, standardisierter Abbildung
  • Datenblätter, Installationsanweisungen, Sicherheitsinformationen, 2d/3d-Modelle usw. als Downloads
  • Detaillierte und umfassende Produktdaten, z.B. technische Eigenschaften, aus standardisierten und strukturierten Merkmalen/Attributen und Wertelisten, Klassifikationen usw.
  • Produktbeschreibungen für Suchmaschinenoptimierung und werbliche Ansprache der Nutzer
  • Mehrsprachigkeit erfordert Übersetzungen der technischen Begriffe und Inhalte

Quellen für die Daten können nebem einem ERP auch Produkt-Informations-Management (PIM) oder Master-Data-Management-Systeme (MAM) sein. Viele Unternehmen  nutzen aber E-Commerce-Projekte als Anstoß, zentrale Instanzen für Bearbeitung, Aufbereitung und Export zusätzlich zu erstellen.

Eine weiterer Aspekt für die Auswahl eines Systems ist die Anwendungsarchitektur. Eine E-Commerce-Plattform kann als Basis für gesamten Webauftritt dienen oder neben einem CMS eingesetzt werden. Zudeem gilt es zu klären, ob eher ein Framework oder Out-of-the box-Ansatz anhand der Anforderung gewählt wird

  • Framework bietet ein Fundament aus Grundbausteinen für individuelle Entwicklung der Module/Funktionen. Darasasus resultiert eine hohe Flexibilität, jedoch mehr Entwicklungsaufwand und längere Projektzyklen.
  • Out-of-the-box Systeme ermöglich die Bereitstellung von Standard-Funktionen, die ein schnelle Implementierung ermögliche. Anpassungen sind dann eher begrenzt oder nur im Rahmen der vorgegebenen Struktur, ohne in den Kern einzugreifen, mit vertretbarem Aufwand möglich.

Auf dem Markt der Anbieter sind u.a. folgende Systeme immer wieder von Analysten wie z.B. Forrester oder Capterra genannt:

  • Adobe
  • Salesforce (Demandware )
  • SAP (HYbris)
  • Oracle
  • IBM
  • Intershop
  • Magento
  • Woocommerce
  • Spryker

Zunehmend integrieren auch CRM- oder PIM-Systeme zahlreiche E-Commerce-Portalfunktionen, z.B. Pimcore, Akeneo oder Salesforce.

Die obigen Ausführen sollen zeigen, dass die Einführung von E-Commerce mit einer klaren Zielvorgabe, Definition der Anforderungen und den richtigen Fachexperten zwar komplex werden kann, aber keine unlösbare Aufgabe ist. Mit Hilfe agiler Projektmethoden können zudem schrittweise kleine Ergebnisse realisiert und frühzeitig Rückmeldungen gewonnen werden. So reduziert sich das Gesamtrisiko des Einführungsprojektes, und ein weiterer erfolgreicher Schritt in der digitalen Transformation wird getan.

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